Unser Atem..
Ein Mysterium. Er ist immer da. Vom ersten Moment unseres irdenen Daseins an. Mit ihm beginnt unser Leben außerhalb des Mutterleibs. Und mit dem letzten Atemzug endet unser Leben hier in dieser Welt. Er begleitet uns. Wo immer wir gehen, stehen, liegen oder sitzen. Egal ob wir lieben, streiten oder arbeiten. Unabhängig davon, ob wir traurig, glücklich, wütend, verletzt, verwirrt, müde oder lustig sind. Nichts ist uns näher. Er steht uns immer treu zur Seite. Ist verlässlicher als so mancher Freund. Er urteilt nicht. Bewertet nicht. Stellt keine Bedingungen. Passt sich an alle Gegebenheiten an.
Er kann so sanft sein. Dann wieder so wild. Er ist ein leiser Begleiter auf all unseren Wegen. Scheut sich aber auch nicht gehört zu werden. Er ist von wunderschöner, flüchtiger Schönheit. Nicht zu sehen, aber zu fühlen. Er schenkt uns mit jedem Atemzug das pure Leben. Und das etwa 20.000 Mal an einem Tag. Er kommt und er vergeht. Leben und Tod in einem. Er ist Symbol für so viele Zyklen im Universum.
20.000 Atemzüge
Und wir sind uns keinem oder nur wenigen davon am Tag bewusst. Dabei wäre schon nach wenigen Minuten ohne ihn unser Leben in echter Gefahr. Selbst auf Nahrung und Wasser können wir länger verzichten als auf unseren Atem. Er funktioniert unwillkürlich, nichts und niemand muss uns permanent daran erinnern zu atmen (was vor allem nachts echt von Vorteil ist). Doch gleichzeitig können wir Einfluß auf ihn nehmen, ihn verändern, beispielsweise tief oder auch wild bewusst atmen, ihn anhalten.
Rein physiologisch gesehen dient die Atmung dem Gasaustausch, das heisst, unser Körper nimmt durch ihn Sauerstoff auf und gibt Kohlendioxid ab. Dieser stetige Austausch ist wichtig für den gesamten Organismus: Körperzellen, Körpertemperaturregulierung, Organe, Blutkreislauf, Nervensystem usw.
Doch ist unser Atem darüber hinaus für uns Menschen noch so viel mehr als eine reine Körperfunktion:
1. Der Atem als eine Verbindung zum Universum
Wir nehmen durch die Atembewegungen den Atem in uns auf. Wir saugen ihn in uns hinein, indem wir einatmen. Das bedeutet aber auch, dass der Atem eigentlich nicht zu uns gehört. Unserem Organismus ist allein nur die Fähigkeit zu atmen inne, durch den permanenten Reflex des Ein- und Ausatmens. Und doch gehört er zu uns, da ohne ihn unser Leben nicht möglich wäre. Für uns Menschen hängt vom Atmen alles ab. Doch dadurch, dass der Atem nicht in uns selbst entsteht, sondern uns ständig im Außen umgibt und wir ihn einatmen, sind WIR quasi IM ATEM und nicht der Atem in uns.
Das bedeutet aber auch, dass wir alle permanent mit allem und allen verbunden sind, mit allen Tieren und Pflanzen. Und vor allem, mit allen anderen Menschen auf diesem Planet, egal, ob Freund oder Feind. Wir können uns nicht davor verschließen.
Wir sind im Atem sogar immer mit etwas verbunden, das größer ist als alles, was wir uns vorstellen können. Wir sind verbunden mit der Schöpfung selbst. Verbunden mit dem Universum, das uns dauerhaft versorgt wie über eine Nabelschnur.
Das ist auch der Grund dafür, warum so viele Techniken in der Meditation auf so eine vermeintlich simple Sache wie den Atem abzielen.
2. Der Atem als Verbindung zwischen Körper & Geist
„Der Atem ist die Brücke, die das Leben mit dem Bewusstsein verbindet, die Brücke, die deinen Körper mit deinen Gedanken verbindet. Wann immer dein Geist sich verliert, benutze deinen Atem, um die Verbindung wieder herzustellen.“
(Thich Nhat Hanh)
Der Atmen folgt einem Rhythmus, einem immer wiederkehrenden Zyklus, ist ein ständiges Pulsieren, ein ewiger Kreislauf von Werden und Vergehen. Damit reiht er sich in eine Vielzahl von wirklich großen Rhythmen in der Natur ein: der Zyklus einer Frau innerhalb von 28 Tagen, Ebbe und Flut, Tag und Nacht, der Wechsel der Jahreszeiten in einem einzigen Jahreskreislauf, das Leben von allen und allem auf unserem Planeten, das Expandieren und Zusammenziehen des Weltalls.
Selbst in absoluter Stille und Bewegungsruhe unseres Organismus bleibt die Atembewegung erhalten. Und er ist DIE Brücke, die die Trennung zwischen Körper, Geist und Seele überwindet und auch jederzeit im Alltag, bei Bewusstwerdung, ein Gefühl des All-Ein-Seins ermöglicht.
3. Der Atem als Achtsamkeitsübung, um bewusst im Jetzt zu bleiben
Jeder wahrgenommene Atemzug findet ausschließlich nur im Hier & Jetzt statt. Wir können nicht „voratmen“ oder gar den Atem „nachholen“. Deshalb stellt der Atem, immer dann, wenn wir ihn wahrnehmen und uns mit ihm verbinden, einen Anker im Augenblick dar. Er hilft uns, uns mit dem jetzigen Moment zu verbinden und ihn aktiv und bewusst wahrzunehmen:
Jetzt (einatmen).. und jetzt (ausatmen).. und jetzt (einatmen).. und jetzt (ausatmen)..
Der Atem ist damit das beste Mittel, um in den Augenblick zu kommen. Wann immer wir das Gefühl haben, aus unserer Mitte zu fallen, können wir in uns gehen und uns mit unserem Atem verbinden, ihm eine Züge folgen, uns von ihm einladen und mitnehmen lassen, den jetzigen Moment zu erleben.
4. Kostenlos und immer verfügbar
Unser Atem ist völlig kostenlos. Und er ist immer und überall bei uns, ist stets verfügbar. Wir sind auf keine App angewiesen, auf kein transportables Gerät oder was auch immer, was uns daran erinnert ins Hier & Jetzt zu kommen. Unser Atem ist immer da. Wo immer wir gehen und stehen können wir auf ihn zurückgreifen, uns mit ihm verbinden und ihm eine Weile folgen, uns von ihm erden und beruhigen lassen.
5. Atmen, um den Geist zu beruhigen
„Menschsein heißt: in Gedanken verloren sein.“ (Eckhart Tolle)
Forscher behaupten, dass wir gerade einmal 2% unseres Verstandes wirklich sinnvoll benutzen. Den Rest der Zeit ist er am Kreiseln, dauernd damit beschäftigt sich zu sorgen, Dinge in der Zukunft zu planen, Dinge aus der Vergangenheit zu bereuen, Dialoge zu führen mit sich selbst oder bestimmten Personen. Das Gedankenkarussell dreht sich immer schneller und schneller, wenn man ihm keinen Einhalt gebietet. Unser Geist springt hin und her wie ein Affe im Käfig. Er lässt sich nicht besänftigen, sondern zieht unsere Aufmerksamkeit immer wieder ab von dem, was aktuell um uns herum und in uns passiert.
Und diese Mechanismen sind wir uns weitestgehend nicht bewusst. Wir zergrübeln alles, können auch in unserer Freizeit nicht ausspannen, selbst dann nicht, wenn wir wirklich einmal Zeit für uns haben, weil unser Verstand weiter rattert und rattert und rattert. Ewig und immer wieder dreht er dieselben Gedankenschleifen, geht jeden Sachverhalt, an dem er sich einmal festgebissen hat, immer wieder durch. Dabei wächst unsere innere Unruhe. Sorgen und Ängste nehmen zu. Wir werden kurzatmig, fühlen uns gehetzt, gestresst, unentspannt, haben womöglich Probleme einzuschlafen oder leiden generell an Schlafstörungen. So kann es auch sein, dass selbst ein zweiwöchiger Urlaub keinen erholsamen Effekt hat.
Damit wird klar: Statt das wir unseren Verstand zu gebrauchen, mißbraucht er uns.
Wir können den Strom dieser destruktiven Gedanken jedoch selbst stoppen. Denn immer, wenn wir uns mit unserem Atem verbinden und ihm folgen, unterbrechen wir den Lärm in unserem Kopf und kommen zurück zu uns, in unsere Mitte und den jetzigen Augenblick. Und nur dort sollten wir so oft wie möglich sein.